Arbeit, Migration und Ausbeutung: Ursachen für Ungleichheit im Blick

Karen Shire – Forscherinnenporträt

20. Dezember 2023

Karen Shire ist Inhaberin des Lehrstuhls für Vergleichende Soziologie und Japanische Gesellschaft an der Universität Duisburg-Essen. Als Mitglied der Faculty des IMPRS-SPCE engagiert sie sich in dem von zwei Universitäten und dem MPIfG getragenen Doktorandenprogramm und ist hier zugleich Förderin und Rollenmodell für junge Forschende. Ihre Forschung zum Wandel von grenzüberschreitender Beschäftigung und Arbeitsbeziehungen sowie daraus entstehende soziale Ungleichheiten führt sie immer wieder auch ans MPIfG.

Es sei ihr gegangen wie vielen anderen Forschenden, ein Thema habe zum nächsten Thema geführt. Das sagt Karen A. Shire, fragt man sie, wie es dazu kam, dass sie als US-amerikanische Soziologin an der Universität Duisburg lehrt, wo sie vor allem zu transnationalen Arbeitsmärkten in Europa forscht. Seit 2022 ist sie dort Prorektorin für Universitätskultur, Diversität und Internationales. Dass sie sich mit Fragen der Arbeit und der Ausbeutung von Menschen beschäftigt, hat aber auch einiges mit frühen Lebenserfahrungen und ihrem Hang zu tun, sich immer wieder auf Neues einzulassen.

Ihr Vater war aus dem Libanon in die USA ausgewandert, die Familie ihrer Mutter lebte schon mehrere Generationen in den USA. Sie wächst als älteste von drei Schwestern in den 1960er-Jahren in der Innenstadt von Boston auf, damals ein gefährliches Pflaster. „Ich durfte mit meiner Schwester nur im Hinterhof spielen, es war eine harte Zeit“, erinnert sie sich. Als sie acht Jahre alt war, zog die Familie deswegen auf das Land.

Soziologisch betrachtet, resultieren Ungleichheiten aus drei Bereichen: soziale Herkunft, Bildung und Arbeitsverhältnisse. Letzteres habe sie besonders interessiert. Sie habe sich als Heranwachsende gewundert, wie sehr öffentlich in den USA, aber auch privat in ihrer Familie „die Idee der Demokratie“ hochgehalten wurde und wie wenig demgegenüber „demokratische Verhältnisse am Arbeitsplatz eine Rolle spielen“. Sie erlebt als Schülerin und Studentin in ihrem Nebenjob als Setzerin in einem Verlag ganz praktisch, wie wenig Einfluss Beschäftigte in den USA haben: Die meisten können noch heute von einem Tag auf den anderen entlassen werden.

»Es gibt gesellschaftliche Institutionen, die Beschäftigten eine Stimme am Arbeitsplatz geben.«

Sie fängt an, sich mit historischen Ideen der Wirtschaftsdemokratie zu beschäftigen: den Plänen der Zweiten Internationale oder der Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes während der Zeit der Weimarer Republik. Es habe sie als Amerikanerin neugierig gemacht, dass man Institutionen bauen könne, die die Arbeitsverhältnisse regeln, den Beschäftigten „eine Stimme am Arbeitsplatz geben“ und die dazu führten, dass jeder Einzelne mehr Einfluss darauf habe, wie gearbeitet wird. Das beschäftigt sie auch in ihrer Promotion Ende der 1980er-Jahre, wo sie zur Mitbestimmung in Deutschland und Österreich forscht. Ihr Doktorvater ist Wolfgang Streeck, der damals an der University of Wisconsin-Madison lehrte – worauf dann auch die spätere Zusammenarbeit mit dem Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung beruht.

Viel ist in den 1980er-Jahren in der öffentlichen Diskussion in Europa und den USA von der „gelben Gefahr“ die Rede, womit damals allerdings die Japaner gemeint sind, die mit ihrer Art der industriellen Produktion die Märkte aufrollten. Man sprach von dem System Toyota. Manche hätten sich abfällig über die japanischen Arbeitenden geäußert, wie jene französische Ministerin, die von „Ameisen“ gesprochen habe, erinnert sich Shire. Sie selbst geht nach der Promotion an eine japanische Universität und erkundet fortan die japanische Arbeitswelt. „Es war eine unerwartete Gelegenheit und ein Sprung ins kalte Wasser, schließlich sprach ich kein Wort Japanisch“, sagt sie rückblickend. Fast neun Jahre bleibt sie und forscht weiter zu Arbeitsverhältnissen, etwa zu institutionellen Unterschieden in den USA, Deutschland und Japan. Zwischen den letzteren beiden entdeckt sie einige Parallelen, besonders, was die Rolle der Frauen anbelangt. Sie stellt fest, dass es in beiden Ländern institutionelle Anreize für Frauen gibt, ihren Beruf aufzugeben, wenn sie Kinder bekommen, und später nur noch Teilzeit zu arbeiten. Sie widmet den Institutionen dieser „konservativen Sozialstaaten“ von da an viel Aufmerksamkeit.

In Japan entdeckt sie als neuen Gegenstand ihrer Forschung die hohe Bedeutung des Dienstleistungssektors, wo besonders viele Frauen arbeiten. Damit beschäftigt sie sich in immer wieder neuen Kontexten. Sie fragt nach dem Zusammenhang von Institutionen und „geschlechtsbezogenen Ungleichheiten“ in Industrieländern. Damals habe es auch in der Politischen Ökonomie des MPIfG bei dieser Frage einen „blinden Fleck“ gegeben, sagt sie. Niemand habe gefragt: „Wie verursachen Institutionen von Industriestaaten soziale Ungleichheiten?“ Das macht nun Karen Shire.

Schon während ihres Studiums in den 1980er-Jahren war sie eine Zeit lang in Deutschland, an der Universität Hannover. 1999 kehrte sie zurück und blieb. Geplant hatte sie das nicht. Aber dann war sie bei der Suche nach einer Stelle in den USA auf ein Stellenangebot der Universität Duisburg gestoßen, ausgeschrieben über die American Sociological Association. Sie beriet sich mit Wolfgang Streeck, der mittlerweile Direktor am MPIfG war, und entschied sich für Duisburg. Deutschland und Duisburg – beide Entscheidungen hat sie bis heute nicht bereut, was für sie auch etwas mit der demokratischen Verfasstheit der Institution Universität in Deutschland zu tun hat.

„Wir wählen unsere Dekane und unseren Rektor“, sagt sie. Anders als in den USA verdiene hierzulande auch kein Rektor eine halbe Million Euro, sondern „die verdienen genau wie wir und das finde ich gut“. Außerdem sei die Universität Duisburg eine Reformuniversität und damit in vielfacher Hinsicht offener als deutsche Traditionsuniversitäten. Ob sie mit ihrer Biografie in ihrem Heimatland Prorektorin geworden wäre, hält sie für sehr fraglich. Als Stadtmensch fühlt sie sich im Städtekonglomerat Ruhrgebiet wohl, wichtig war ihr bei der persönlichen Standortwahl aber auch die Nähe zum MPIfG in Köln. Sie ist Mitglied in der vom MPIfG mitgetragenen International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy, vertritt hier auch die Interessen der Universität Duisburg-Essen. Sie gilt als eine exzellente Betreuerin, die gut vernetzt ist und auf angenehme Weise mit allen Beteiligten umgeht.

»Deutschland und Duisburg – beide Entscheidungen hat sie bis heute nicht bereut.«

In den 1990er-Jahren prägen Massenarbeitslosigkeit und strukturelle Umbrüche die Arbeitsmärkte der Industrieländer, die mit einer Deregulierung reagieren. In der EU entstehen damals auch neue Märkte für Zeitarbeit, in der Industrie und im Dienstleistungsbereich. Für die weitere Entwicklung sei es ganz entscheidend gewesen, dass viele Menschen nun keine unbefristeten Arbeitsverhältnisse mehr gehabt hätten, sondern befristete Arbeitsverträge, Werkverträge oder als Soloselbstständige tätig waren. Das Spektrum der Arbeitsformen habe sich differenziert und „ich habe mich dann viel mehr als vorher auf die Arbeitsmarktforschung konzentriert“. Zur Inspirationsquelle werden für sie die Arbeiten des heutigen MPIfG-Direktors Jens Beckert zur Soziologie von Märkten, „Das war bedeutend für mich“, sagt sie. Denn diese Theorie eröffne viele Einsichten darüber, wie die Menschen in Arbeitsverhältnisse eingegliedert werden und welche bedeutende Rolle Marktwert und Wettbewerbsbedingungen für den Status von Arbeitenden haben.

»Die Arbeitssoziologin will auf die Ausbeutung inmitten von Europa hinweisen.«

Nun stellte sie sich Fragen zu den Menschen, die aus den mittel- und osteuropäischen Reformländern in die alten EU-Mitgliedsstaaten kamen, um dort zu arbeiten – möglich zunächst dank der Arbeitnehmerüberlassung, nach dem Beitritt der Länder zur EU dann dank der Freizügigkeit für Beschäftigte in der Gemeinschaft. Das sei „eine gute Sache“, aber man habe nie wirklich mitgedacht, wie sich das für die Betroffenen und die Gesellschaften auswirken könnte, „gerade mit Blick auf die starke Ungleichheit in der EU“. Der Arbeitssoziologin ist es ein Anliegen, auf die Ausbeutung inmitten von Europa hinzuweisen. Vor allem will sie wissen, warum es dazu kam und wie sich die Verhältnisse verbessern lassen. Die Ursache habe viel mit dem Kapitalismus alternder Gesellschaften zu tun. „Wenn die Bevölkerungszahlen sinken, dann sinken auch die Chancen, Werte zu produzieren“, sagt sie. Das erhöht den Anreiz, Arbeitende aus dem Ausland ins Land zu holen. Aber ursächlich seien auch unzureichende institutionelle Regeln.

Menschen, die aus sozial schwachen Schichten oder anderen Kulturen kommen, widmet sich Karen Shire ausführlich – als Mitglied der Hans-Böckler-Stiftung, die Stipendien vergibt, an junge Menschen aus bildungsfernen Elternhäusern oder mit Zuwanderergeschichte. Für sie nimmt sie sich auch an ihrem Lehrstuhl in Duisburg viel Zeit. „Manche Antworten, die andere vielleicht schräg finden, finde ich interessant“, sagt sie und spricht darüber, dass ihre Doktoranden ein sehr „bunter Haufen“ seien. Sie ist überzeugt, dass sie dabei nie Abstriche an der „Qualität“ gemacht hat, sondern sich immer „die besten ausgesucht“ hat. Sie inspiriert mit ihrem Lebensweg auch junge Studierende. Das Beispiel von ihr als Frau, die in den USA mit Migrationshintergrund aufwuchs und später nach Japan und dann nach Deutschland ging, helfe manchem jungem Menschen an der Universität. „Dass so etwas möglich ist, macht denen ein bisschen Mut.“

Bis heute hat sie keinen deutschen Pass. Aber als Amerikanerin in Deutschland sei sie noch nie als Migrantin behandelt worden. Manchmal spreche sie dies an. In die USA zurückgehen will sie nicht. Ihre Möglichkeiten, zu forschen, seien hier viel besser, es gebe einen funktionierenden Sozialstaat und die politische Kultur sei weniger vergiftet. „Wissen Sie, mein Sohn wollte wegen Angst vor Gewalt kein Austauschjahr in den USA machen. Also, es geht hier zivilisiert zu, würde ich sagen.“

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