Klimapolitik ist kein Entweder-oder: Der Beitrag der Sozialwissenschaften in der Klimakrise

Jens Beckert

Seit einem halben Jahrhundert wissen wir um die Gefährlichkeit des Klimawandels. Doch in dieser Zeit ist der jährliche weltweite Ausstoß von klimaschädlichen Treibhausgasen nicht etwa zurückgegangen. Ganz im Gegenteil: Er hat sich mehr als verdoppelt. Trotz vielfältiger Anstrengungen für einen klimagerechten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, die es etwa in den europäischen Ländern gibt, werden auch in den nächsten Jahrzehnten fossile Brennstoffe in viel zu großen Mengen verbrannt werden. Was daraus folgt, ist klar: Die Welt muss sich auf eine weitere Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur einstellen. Laut aktueller Prognosen ist ein Temperaturanstieg von 2,5 bis 3 Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts das wahrscheinlichste Szenario. Gesellschaften werden also zukünftig immer stärker von den Folgen des Klimawandels betroffen sein.

»Wenn die natürlichen Lebensgrundlagen zunehmend instabil werden, wird der Klimawandel eine immer größere politische und gesellschaftliche Herausforderung – und zwar global und langfristig. Was bedeutet dies für eine realistische Klimapolitik?«

Gesellschaften müssen sich mit der Begrenzung des Treibhausgasausstoßes durch den fundamentalen technischen Umbau von Energiesystemen auseinandersetzen und gleichzeitig mit der Anpassung an veränderte klimatische Bedingungen. Hierfür sind erhebliche Investitionen erforderlich. Schätzungen besagen, dass ungefähr sieben Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts für die Transformation zu Klimaneutralität und Anpassungsmaßnahmen aufgebracht werden müssten. Sei es dass ganze Landstriche nach verheerenden Überflutungen wieder aufgebaut, sei es dass Deiche verstärkt werden, sei es dass ganze Energiesysteme umgebaut werden müssen. Es ist unrealistisch anzunehmen, dass tatsächlich hinreichend Geld mobilisiert werden kann, um all diese Aufgaben zu meistern.

Doch Klimapolitik ist kein Entweder-oder. Jede Tonne nicht verfeuerten Erdöls zählt. Und jede Abminderung der Folgen des Klimawandels für die betroffenen Menschen ist bedeutsam. Es kommt darauf an, die politischen Bedingungen zu schaffen, um so viel wie möglich zu erreichen – selbst wenn klar ist, dass es nicht genug sein wird, um die Erwärmung auf das in der Klimawissenschaft für tolerabel gehaltene Maß zu beschränken.

Hier kommen die Sozialwissenschaften ins Spiel. Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler untersuchen die Funktionsweise von politischen und sozialen Prozessen. Sie können sehr klar die Mechanismen darlegen, die eine angemessene Reaktion auf den Klimawandel blockieren. Sowohl die Unternehmen und der Staat als auch Bürgerinnen und Bürger oder Konsumenten handeln im Kontext von Macht- und Anreizstrukturen, hinter denen die Natur regelmäßig zurücksteht. Das Wissen um soziale Mechanismen bietet aber auch die Chance, möglicherweise dennoch bestehenden Ansatzpunkte für Veränderungen herauszuarbeiten. Die Sozialwissenschaften können darlegen, wie Klimaschutzpolitik stärkere Unterstützung finden kann und wie sich Gesellschaften an die Klimafolgen so anpassen können, dass der soziale Zusammenhalt weniger gefährdet ist. Die drängendsten Fragen sind: Wie lässt sich privates und öffentliches Geld für Klimaanpassung und Klimaschutz mobilisieren? Wie können unterstützende politische Koalitionen geschmiedet werden, die der Klimapolitik zu Mehrheiten verhelfen? Wie lässt sich soziale Resilienz angesichts zunehmender Betroffenheit durch die Folgen des Klimawandels stärken?

Darauf gibt es schon jetzt einige Antworten. Es bedarf eines sehr viel aktiveren und zugleich eines finanzstarken Staates, der Klimapolitik koordiniert, stabile Anreize für den wirtschaftlichen Umbau schafft und für sozialen Ausgleich sorgt. Es bedarf einer starken Zivilgesellschaft, die dabei mithilft, die Einsicht in die Notwendigkeit der Klimatransformation in der Bevölkerung zu fördern, und damit zur Legitimation von Klimapolitik beiträgt und diese mitgestaltet. Es bedarf auch positiv besetzter Zukunftsbilder, die aufzeigen, wie ein Leben ohne Verbrennung fossiler Energieträger und unter Einhaltung der planetaren Grenzen aussehen könnte und welche lebenspraktischen Gewinne damit verbunden sind. Und es bedarf der Stärkung globaler Solidarität, nicht nur aus moralischen Gründen der historischen Verantwortung für den Klimawandel, sondern auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Die Instrumente der Sozialwissenschaften für kluges und moralisch angemessenes Handeln in der Klimakrise zu schärfen, ist eine vordringliche Forschungsaufgabe. Das MPIfG wird sich dieser Aufgabe zukünftig verstärkt widmen.

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